Privatanleger sind eine unterschätzte Zielgruppe bei Börsengängen

24. Nov. 2023

Privatanleger sind eine unterschätzte Zielgruppe bei Börsengängen

Das Interesse von Privatanlegern am Börsen geschehen nimmt zu. Vor allem junge Leute begeistern sich zunehmend für Wertpapieranlagen. Die „Generation Aktie“ tickt aber anders als die bislang engagierten Investoren. Börsennotierte Unternehmen müssen deshalb umdenken. Firmen, die ihr IPO noch vor sich haben, können die sich bietenden Chance indes von Anfang an für sich nutzen.

Die jüngsten Zahlen des Deutschen Aktieninstituts (DAI) belegen den Trend. Obwohl das vergangene Börsenjahr wenig erfolgreich verlief, haben hierzulande 2022 rund 600.000 Erwachsene unter 30 Jahren zum ersten Mal eine Aktie, einen Fonds oder einen ETF gekauft. Insgesamt waren dadurch zum Jahresende 5,3 Millionen Menschen direkt in Aktien investiert. So viel wie noch nie. Fast jeder fünfte Deutsche ab 14 Jahren ist mittlerweile über die verschiedenen Wertpapiere am Aktienmarkt investiert. Vor zehn Jahren war es nur jeder Siebte. Positiv aus Sicht von Unternehmen: Mehrere Studien besagen, dass das wichtigstes Anlageziel der jungen Generation ein langfristiger Vermögensaufbau (u.a. für die Altersvorsorge) ist. Es wird an der Börse also nicht nur wild spekuliert.

Die Grundidee der Aktienanlage, also die Partizipation an den Erfolgen eines Unternehmens, rückt damit wieder in den Vordergrund. Eine sehr erfreuliche Entwicklung, die bei vielen Firmen aber auch ein Umdenken im Umgang mit (potenziellen) Investoren erfordert. „Die Aktienkultur in Deutschland hat sich in den vergangenen drei Jahren stark verändert“, erklärt Nathalie Richert von der Baader Bank. Durch neue, digitale Plattformen ist das Investieren zugänglicher gemacht worden. Anleger haben zudem mehr Möglichkeiten, sich breit und über Geografien hinweg zu informieren. „Privatanleger sind aktiver geworden“, fasst die erfahrene Börsenspezialistin zusammen.

Die am häufigsten genutzte Informationsquelle sind dabei die Sozialen Medien. Kurz, prägnant, präzise und multimedial werden die Informationen dort aufbereitet. Audiovisuelle Formate wie Videos, Podcasts und Infografiken sind im Vergleich zu klassischen Texten deutlich beliebter. Eine bedeutende Rolle haben mittlerweile die so genannten Finfluencer eingenommen. Der Kontakt zu den Unternehmen bleibt hingegen weitestgehend aus. Einer u.a. vom DAI durchgeführten empirischen Untersuchung zufolge wird zwar die Zuverlässigkeit der IR-Angebote geschätzt, der hohe subjektive Aufwand und die Angst vor fehlender eigener Kompetenz verhindert oft aber die Kontaktaufnahme.

Konzerne wie Bechtle oder die Deutsche Telekom haben sich vor diesem Hintergrund dazu entschieden, proaktiv auf die neue Zielgruppe zuzugehen. Beide Unternehmen veranstalten dafür zum Beispiel spezielle Events für Privatanlegende und nehmen dabei auch gezielt professionell arbeitende Finfluencer mit ins Boot. „Wir wollen einen noch besseren Zugang zu den Privatanlegenden finden und ihnen einen Austausch auf Augenhöhe bieten“, erklärt Christoph Greitemann aus dem IR-Team der Deutschen Telekom. Die Bonner haben mit 1,3 Mio. Privatanlegenden die mit Abstand meisten in Deutschland, aber außerhalb der Hauptversammlungszeit kommen auf den herkömmlichen Wegen wie Telefon oder Email trotzdem nur ca. 20 Privatanlegende aktiv auf die IR-Abteilung zu. „Wir müssen die Menschen da abholen, wo sie sind“, sagt Greitemann, der mit seinem Team deshalb intensiv an den passenden Formaten vor allem für junge Leute arbeitet.

Solche Aufgaben warten auch auf Unternehmen, die sich bei ihrem Börsengang dafür entscheiden, die Gruppe der privaten Aktionäre verstärkt mit ins Boot zu nehmen. Bislang war das eher die Ausnahme. Der Fokus der Börsenneulinge lag überwiegend auf den Institutionellen. Bei den größeren IPO der jüngeren Vergangenheit (thyssenkrupp nucera, IONOS Group, Porsche) erhielten die Kleinanleger zwischen 5,8 und 7,7 Prozent der zugeteilten Aktien. Das passt zu Berichten von Branchenkennern, wonach Investmentbanken je nach Emissionsgröße bislang maximal 10 Prozent für die Retailkunden vorsehen. Richert erkennt hier jedoch eine Weiterent[1]wicklung. „Natürlich bleiben institutionelle Investoren die wichtigste Basis. Jedoch sehen wir sowohl bei IPO-Kandidaten als auch gelisteten Unternehmen, dass ein gestiegenes Interesse besteht, die Zielgruppe Retail-Investoren aktiver anzusprechen bzw. die Ansprache auszubauen“. Schon beim Börsengang macht es aus ihrer Sicht Sinn, die Zielgruppe der Retail-Anleger bewusst in die Überlegungen miteinzubeziehen sowie die Platzierungskanäle um Online-Broker oder Neo-Broker zu erweitern. „Die regulatorischen Rahmenbedingungen müssen eng mit allen beteiligten Akteuren abgestimmt werden“, ergänzt Richert.

Hilfreich kann dabei DirectPlace-Tool sein, die Zeichnungsfunktionalität direkt über die Deutsche Börse. Damit können Unternehmen beim IPO einen deutlich breiteren Investorenkreis ansprechen. Neben Banken, Versicherungen und Investmentfonds werden gezielt Retail-Investoren, Family Offices und Vermögensverwalter eingebunden. Die Nachfrage von Privatanlegern ist komplementär zu der institutionellen Nachfrage, so dass DirectPlace zur Platzierungsbreite beiträgt. Darüber hinaus kann eine bedeutende Allokation an Privatanleger auch eine höhere Liquidität im späteren Börsenhandel gewährleisten. Zudem steigern die Börsenneulinge den Bekanntheitsgrad ihres Unternehmens am Kapitalmarkt und auch in der breiten Öffentlichkeit. Ein Punkt, der in Zeiten des Fachkräftemangels und beim Wettbewerb um Visibilität nicht unterschätzt werden sollte. Deshalb lädt zum Beispiel Bechtle zu seiner jährlichen Hauptversammlung immer auch Schulklassen aus der Region ein, die im Anschluss die Möglichkeit haben, sich über die Karrieremöglichkeiten bei dem Konzern zu informieren.

Generell gilt für die Gewinnung und Bindung von Mitarbeitern, dass die aus Unternehmenssicht wünschenswerte Identifikation mit dem Arbeitgeber durch ein Listing an der heimischen Börse und der damit verbundenen transparenten Berichterstattung deutlich gestärkt werden kann. Zudem haben Firmen nach dem Börsengang im Falle einer Indexaufnahme auch den Vorteil, über Exchange Traded Funds gehandelt zu werden, die sich mittlerweile als fester Bestandteil der Altersvorsorge von aktiven Anlegern etabliert haben. Doch auch als direkter Aktionär bieten Privatanlegende den Unternehmen große Vorteile. Gerade in kritischen Zeiten können Privatanleger durch ihr zumeist loyales und oftmals auch antizyklisches Agieren zu einer Beruhigung des Marktgeschehens beitragen.

In einem von The Economist Intelligence Unit verfassten Bericht aus dem Jahr 2020 wurden beispielsweise Studien zitiert, nach denen viele Kleinanleger langfristig orientierte Aktionäre sind, die an ihren Investments festhalten, selbst wenn die Aktienkurse schwanken und institutionelle Anleger ihre Anteile verkaufen. In den USA verfolgt demnach fast die Hälfte der selbstentscheidenden Kleinanleger einen „buy & hold“-Ansatz. In Kanada hält über die Hälfte der Privatanleger selbst nach größeren Verlusten von mehr als 20 Prozent an ihren Investments fest. Auf der anderen Seite sorgt diese Klientel in vielen Fällen auch für die nötige Liquidität. Vor allem für kleinere Unternehmen ein wichtiger Punkt, denn im KMU Segment machen die Privaten einen stetig wachsenden Anteil am Handelsvolumen aus. In Frankreich etwa sind Kleinanleger laut Guillaume Morelli von der Euronext für bis zu 50 Prozent des Handelsvolumens von KMU verantwortlich.

Wie gut es mit den Privaten als Aktionär funktionieren kann, zeigt auch das Beispiel der Nasdaq Nordic, unter deren Dach sich die Börsen Skandinaviens und des Baltikums angesiedelt haben. 2022 gab es hier 38 Börsengänge und in diesem Jahr soll die Zahl sogar noch steigen. Vor allem kleinere Unternehmen führen hier ihr IPO durch. Dabei stellen Privatanleger bis zu 50 Prozent der Investments und des Handelsvolumens. Auffällig ist vor diesem Hintergrund, dass die Rendite in den nordischen Ländern in den ersten drei Monaten nach dem Börsengang im Schnitt deutlich höher ist als im übrigen Europa. Das spricht auch für das Vertrauen der Privatinvestoren, die hier schon frühzeitig in die Unternehmenskommunikation eingebunden werden und dann auch die Möglichkeit erhalten, an den Zeichnungen teilzunehmen. Unterstützt wird dieser Trend von Seiten der Politik, die durch verschiedenen Maßnahmen für ein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit an Aktieninvestments gesorgt hat. In Schweden etwa sind Arbeitnehmer dazu verpflichtet, 2,5 Prozent ihres Bruttoeinkommens für eine private Altersvorsorge aufzuwenden.

Hierzulande hat sich die Bundesregierung zum Ziel gesetzt, Deutschland zum führenden Standort für Startups zu machen und dafür ausreichend privates Kapital zu mobilisieren. Das Zukunftsfinanzierungsgesetz soll die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür verbessern. Doch auch ohne politische Anreize sind Privatanlegende bei uns in Deutschland zunehmend offen gegenüber einem Direktinvestment in interessante Aktien. Diese Chance gilt es schon bei der Vorbereitung eines angedachten oder konkret geplanten Börsengangs zu nutzen. Dafür müssten die Unternehmen ihre Kommunikationskanäle frühzeitig (auch) auf diese Zielgruppe ausrichten und die bestehenden Möglichkeiten wie DirectPlace der Deutschen Börse bei ihren Plänen berücksichtigen.


Herausgeber

Deutsche Börse AG

60485 Frankfurt am Main

November 2023